MEIN GEHEIMNISVOLLES MÄDCHEN



Ich saß auf einem Baum und wartete, wartete das sie endlich kam, wartete, dass sie mich endlich entdecken würde und in ihre Welt aufnehmen, wartete, dass meine vergeblichen Träume in Erfüllung gingen.
Auf das, glaubte ich, könnte ich warten bis ich schwarz wurde.
 Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, die Hoffnung, dass nur ein kleiner Funken meiner Träume wahr werden würde.
Die Hoffnung, dass mein Warten endlich ein Ende hatte.
Und auf das, dass sie kam, konnte ich höchstens bis ich blau vor Kälte wurde warten.
Es war zwar ein warmer Herbstnachmittag, aber in dem schattigen Blätterdach des Baumes wurde es schon kühl.

Sie kam, nein kam ist untertrieben, sie schwebte wie auf Wolken herbei. Dann setzte sie sich wie immer auf einen Sonnen beschienenen Stein gegenüber meinem Baume und holte ein Buch hervor.
Ich beobachtete sie aus dem sicheren Schutz des Blätterdachs und versuchte den Titel des Buches zu erkennen, es gelang mir leider nicht.
Sie begann zu lesen. Gespannt starte ich auf sie, beobachtete jedes Lächeln, dass ihr das Buch entlockte und jeden entsetzten Gesichtsausdruck, den ihr Gesicht annahm, wenn die Geschichte unglückliche Überraschungen barg. Ich brauchte sie nur anzuschauen um zu wissen, wie es den Wesen in dem Buch ging. Jede noch so kleine Emotion spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder.
So beobachtete ich sie wie immer und erfreute mich an ihrem Anblick.

Langsam wurde es dunkel und ich begann zu frieren.
Nach einiger Zeit, als die Sonne unterging und es zu dunkel zum Lesen wurde, legte sie das Buch zur Seite und stand auf.
Sie streckte sich und als der Wind ihr die roten Haare aus dem Gesicht wehte und die letzten Sonnenstrahlen auf ihr Gesicht fielen, sah ich, dass sie weinte.
Es brach mir fast das Herz, als ich sie da so verlassen in ihrem wehenden Kleid weinen sah. Doch plötzlich schien sie wieder Kraft gefunden zu haben und drehte sich um.
Der Mond war langsam aufgegangen und sie sah in den Himmel. „Warum ich?“ fragte sie ihn, „Warum ich?“

Plötzlich tauchte ein Wolf hinter ihr auf. Ich hielt den Atem an und der Angstschweiß lief mir den Rücken hinunter. Doch sie drehte sich ruhig um, obwohl der Wolf sich so ruhig angeschlichen hatte, dass es nicht einmal meine Mutter hören würde, und sie hörte gut, zu gut.
Langsam streckte sie eine Hand nach ihm aus und begann ihn zu streicheln. Ich atmete erleichtert aus. Sie schien überhaupt keine Angst vor dem Tier zu haben und als es zu heulen begann, tanzte sie dazu. Zu erst drehte sie sich nur, doch dann wirbelte sie mit den Armen herum und sprang verrückt um ihn herum. Und ich beobachtete mein Mädchen und genoss ihren Anblick.
Dann verschwand der Wolf so schnell wie er gekommen war. Und sie, sie drehte sich wieder zum Mond um und fragte: „Verstehst du jetzt was ich meine, warum ich?“ Dann überkam sie eine tiefe Traurigkeit und sie lief davon.

Ich verstand nicht was sie meinte, aber ich war auch ein Junge.
Und trotzdem, trotzdem merkte ich, dass sie Angst hatte, verzweifelt und einsam war.
Aber ihr Geheimnis konnte ich nicht lüften.


MIRIAM, 14 Jahre aus Wien, (2005)